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Martynas Levickis
Martynas Levickis

Auf der Suche nach dem Unentdeckten

Preisträger in Residence Martynas Levickis im Gespräch

Du bist auf den Bühnen der Welt unterwegs, hast zahlreiche Preise gewonnen, nicht zuletzt den Publikumspreis der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern im Jahr 2014. Diesen Festspielsommer prägst Du als Preisträger in Residence, aber lass uns noch einmal zu den Anfängen zurückkehren: Wie hat alles angefangen?
Ich habe mich schon immer zur Musik, zu Klängen und zur Darstellenden Kunst hingezogen gefühlt. Meine Familie hatte ein Sommerhaus mitten in den Wäldern Nordlitauens und genau dort hat sich dieses darstellerische Bedürfnis in meiner Persönlichkeit schon früh gezeigt. Einmal war dort ein verletzter, hinkender Schwan, der mich offenbar sehr beeindruckte, denn ich habe angefangen, diesen Schwan nachzuahmen. Ich erzählte allen, dass ich dieser Schwan sei, hinkte herum und versuchte, dieses Tier wirklich zu sein. Ich denke, das war vielleicht der erste Ausdruck meines Interesses an der Darstellenden Kunst.

Und wie bist Du von diesem eher schauspielerischen Ansatz zur Musik gekommen?
Kurz danach war ich von einer Fernsehübertragung eines Klavierkonzerts so begeistert, dass ich anfing, mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln und zu behaupten, ich spiele Klavier. Meine Familie muss sich gedacht haben: »Das Kind interessiert sich für Musik, also sollten wir vielleicht aktiv werden …« Weil wir kein Klavier hatten, bekam ich ein kleines Akkordeon zum Probieren und ich war sofort fasziniert.

Kannst Du Dich erinnern, was Dich am Akkordeon so sehr angezogen hat?
Ich glaube, es war die Mechanik, also all die sichtbaren, sich bewegenden Teile. Später habe ich sogar versucht, das Instrument auseinanderzubauen und habe es nie geschafft, es wieder richtig zusammenzusetzen.

Haben Dich die musikalischen Hintergründe — Notenlesen, Musiktheorie usw. — auch so unmittelbar in ihren Bann geschlagen?
Anfangs konnte ich noch keine Noten lesen und ich fand es viel interessanter, zu lauschen und mit den gehörten Geräuschen zu improvisieren — Vögel, Wind, raschelnde Bäume, einfach alles.

Letztlich hast Du aber doch mit einer gewissen Professionalisierung begonnen …
Als ich sechs Jahre alt war, bekam ich einen Musiklehrer; zwei Jahre später ging ich an eine Musikschule, was ich aber zunächst ziemlich uninteressant fand. Ich habe nicht viel geübt und in den ersten Jahren kaum Fortschritte gemacht.
Aber als wir anfingen, vor Publikum zu spielen, liebte ich das Gefühl, so viel von den Zuhörer:innen zurückzubekommen — und plötzlich wurde ich besser. Das Musikstudium war da aber noch kein Thema für mich. Ich konnte mir nicht vorstellen, dafür gut genug zu sein. Glücklicherweise hat mich meine Familie am Ende davon überzeugt.
Mit 15 oder 16 hatte ich eine tolle Lehrerin. Im Sommer habe ich ganze Tage in ihrem Haus verbracht und in einem geschlossenen Raum geübt. Ein oder zwei Stunden kam meine Lehrerin zu mir, um mich zu unterrichten, aber den Rest der Zeit war ich allein. In der Zwischenzeit war sie im Garten, pflückte Tomaten und Gurken, kochte für ihre Familie, während ich bei offenem Fenster üben musste, damit sie mich auch hören konnte. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, ist das ein großer Einsatz, den ich sehr zu schätzen weiß.
Als ich 18 war, entschied ich mich, in London Akkordeon zu studieren.

… und 14 Jahre später prägst Du den Festspielsommer als Preisträger in Residence. Worauf freust Du Dich im Festspielsommer besonders?
Bei der Gestaltung hatte ich viele Freiheiten und konnte meine Konzerte frei zusammenstellen. Es ist also schwer, etwas besonders hervorzuheben.
Ich freue mich aber sehr auf mein Duo mit Iveta Apkalna. Wir verstehen uns menschlich sehr gut, aber die interessante, vielleicht sollte ich sagen eigentümliche Klangmischung von Orgel und Akkordeon wird das Publikum sicher begeistern. Und dann Benjamin Appl ... Ich liebe es, mit ihm aufzutreten, auch wenn ich dann »nur« in der Rolle des Begleiters bin und das vielleicht nicht so gewohnt bin, weil ich mich mehr als Solist verstehe, aber: Man muss auch mal auf andere hören.
Ein weiterer Höhepunkt ist das Eröffnungskonzert, in dem ich nicht nur Gershwins Rhapsody in Blue, sondern auch meine selbst komponierte Festspiel-Ouvertüre für Akkordeon solo spielen werde. Ich habe versucht, beide Werke auf subtile, versteckte Weise miteinander zu verbinden. Dass ich mit der Academy of St Martin in the Fields spielen darf, bedeutet mir sehr viel; außerdem bin ich sehr gespannt auf die Konzerte mit Avi Avital und dem Danish String Quartet. Letztere kenne ich noch nicht persönlich, aber sie waren eine große Inspiration für mich, zur Volksmusik zurückzukehren.

Wenn Sie also das Unbekannte und Unentdeckte suchen, dann werden Sie genau das in meiner Residenz finden.

Martynas Levickis

In der Friends-Woche scharst Du gleich fünf Akkordeonist:innen um Dich und bringst nahezu ein Akkordeonorchester zusammen …
Als junger Musiker habe ich in Akkordeon-Ensembles gespielt. Aufgrund der unterschiedlichen Stimmung ist es gar nicht so einfach, mehrere Akkordeons zusammenspielen zu lassen und ich bin umso glücklicher, dass es uns gelungen ist, so großartige Kolleg:innen und Freund:innen einzuladen.
Darüber hinaus wird diese Woche auch einen starken britischen Einschlag haben, der meine Zeit in London repräsentiert. Ganz besonders freue ich mich, dass Lizzie Ball und Emma Smith dabei sind. Wir haben viel Zeit damit verbracht, in »Ronnie Scott's Jazz Club« in London zu spielen und zu improvisieren ...

Am Ende Deiner Residenz kehren wir quasi zurück zur Natur. Unter dem Motto »Im Wasser« steht eines der prägenden Naturelemente Mecklenburg-Vorpommerns im
Fokus.

In letzter Zeit denke ich oft darüber nach, wie der Mensch wohl plötzlich auf die Idee kam, Musik zu machen — nach hunderten, tausenden von Jahren, in denen es nur darum ging, Essen und Ruhe zu bekommen und nicht von irgendeinem Tier gefressen zu werden.
Wenn ich an die Natur denke, dann möchte ich eigentlich zu den Ursprüngen zurückgehen, als der Mensch noch Teil der Natur war. Heute sind wir anders, mit unserem gut organisierten Lebensstil in einer komplexen Gesellschaft, aber kehren trotzdem irgendwie immer wieder zur Natur zurück. Ich denke, dass wir Menschen mehr darauf achten sollten, wie wir unsere Umgebung und die Natur, angefangen beim Wasser, beeinflussen. Das Element ist so prägend für Mecklenburg-Vorpommern und deshalb ist es toll, ein solches Programm spielen zu können, das Händels Wassermusik mit Minimal Music und neuer Klassik verbindet.

Apropos neu: Bei Deinem Konzert mit dem Bundesjugendorchester erwartet uns sogar ein eigens für Dich komponiertes Akkordeonkonzert.
Ich bin sehr glücklich, dass es uns gelungen ist, Daniel Nelson zu gewinnen, ein Akkordeonkonzert speziell für mich zu schreiben. Kurz nach der Welturaufführung präsentieren wir es im Festspielsommer. Neue Musik zu produzieren ist mir sehr wichtig. Das mit dem — und für das — Akkordeon zu tun, ist allerdings gar nicht so einfach.
Einerseits ist es als »Quetschkommode« verschrien und gilt manchem als primitiv. Nach seiner Entdeckung durch die modernen Komponist:innen wurde es plötzlich zu einem virtuosen Monster der Klänge, Cluster, Dissonanzen und der seltsamen Rhythmen ... Das ist toll, aber ich glaube, dass die Schere zwischen sehr primitiv und sehr komplex zu groß ist und gefüllt werden muss.

Dazu werdet ihr mit diesem Konzert wieder etwas beitragen.
Genau. Seit ich Daniel zum ersten Mal getroffen habe, hatte ich die Idee, dass er ein Akkordeonkonzert schreiben könnte. Und endlich ist es so weit!
Das Akkordeonkonzert hat den Titel »The Ghost Machine« und ist inspiriert von Thomas Edisons Versuch, eine Maschine gleichen Namens zu erfinden, um die Anwesenheit von Verstorbenen bzw. deren Geistern nachzuweisen. Ich denke, es passt wirklich in die Akkordeonwelt, denn das Akkordeon selbst ist eine Art Geist: Man weiß nicht genau, was es ist.

Du sprichst schon an, dass es vielfach Vorurteile gegen Dein Instrument gibt. Erlebst Du diese auch in Deinem künstlerischen Alltag?
Natürlich gibt es sie, und ich werde immer wieder mit ihnen konfrontiert. Sie sind nicht unbedingt extrem negativ; manche wissen einfach nichts mit dem Akkordeon anzufangen. Ich bin also gezwungen, mich ständig mit den Vorurteilen auseinanderzusetzen. Allerdings spornt mich das auch an. Wenn ich sehe, dass jemand nicht an mich und mein Instrument glaubt, gibt mir das noch mehr Inspiration und Energie, diese vorgefasste Meinung zu ändern.

Wir haben bereits darüber gesprochen, dass der diesjährige Festspielsommer eine ganz besondere Gelegenheit bietet, um Dich und Dein Instrument zu erleben. Kurz zusammengefasst: Worauf kann sich das Publikum freuen?
Ich habe das Gefühl, dass die Dinge im Laufe des Lebens nicht mehr so aufregend sind wie früher. Ich selbst erlebe, dass mich die Dinge mit der Zeit immer weniger fesseln.
Wenn Sie, liebe Festspielbesucher:innen, also das Unbekannte und Unentdeckte suchen, dann werden Sie genau das in meiner Residenz finden und — ganz sicher — wieder den Reiz des Neuen spüren.

 

Interview geführt von Isabel Schubert