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Sebastian Koch
Sebastian Koch

Auf Flügeln des Gesangs

Kantable Spurensuchen im Festspieljahr 2023

»Das älteste, echteste und schönste Organ der Musik, das Organ, dem unsere Musik allein ihr Dasein verdankt, ist die menschliche Stimme.« — So notierte einst Richard Wagner, der sich selbst wie kein Zweiter dem gesungenen Wort verschrieben und die Möglichkeiten der Stimme in seinen epochalen Musikdramen ausgelotet hatte. Doch Gesang findet nicht nur auf den Brettern der Welt und in kunstfertig überhöhter Form statt. Im Gegenteil: Die Stimme ist das einfachste Instrument überhaupt, und das Lied die wohl selbstverständlichste aller musikalischen Gattungen. Sie bietet eine intensive Ausdrucksmöglichkeit für Gefühle, Stimmungen und Beziehungen. Der Zauber des Liedes liegt aber auch in seiner Universalität: Lieder gibt es für alle Lebenslagen und -bereiche, vom Volks- bis zum Kirchenlied, vom Frühlings- bis zum Weihnachtslied und vom Liebes- bis zum Trinklied. Doch nicht nur das: Hat das Lied in seiner ursprünglichen Definition stets einen Text, gibt es doch spätestens seit Mendelssohn-Bartholdys »Liedern ohne Worte« eben auch instrumentale Lieder, die den Aspekt des Singbaren von tatsächlichen Worten lösen. Auch hier offenbaren sich schier endlose Möglichkeiten. So klein die Form also auch sein mag, so bedeutend ist sie für den musikalischen Alltag.

Im Rahmen des laufenden Festspieljahres erhält die vermeintliche musikalische Kleinigkeit »Lied« ganz besondere Aufmerksamkeit: So widmet sich auf Schloss Ulrichshusen ein ganzes Wochenende dieser Gattung. Inmitten der unberührten Natur rund um die mittelalterliche Wasserburg in der Mecklenburgischen Seenplatte steht das Lied in all seinen Facetten im Fokus und erzählt Geschichten von Leidenschaft en und innersten Gedanken. Sopranistin Anna Prohaska sowie die Festspielpreisträger Nils Mönkemeyer und Matthias Schorn wandeln Ende Juli auf den Spuren des Kantablen und ergründen, dass Lieder mit, aber eben auch ohne Worte klingen können. Verstärkung kommt dabei nicht nur von der Kammerakademie Potsdam, sondern auch von Slam-Poet Bas Böttcher, der eine erfrischend moderne Lesart der musikalisch-verbalen Synthese präsentiert, und von der Band »The Erlkings«, die sich bereits mit ihrem bei Franz Schubert als »dem« Liedkomponisten schlechthin entlehnten Namen in eindeutige Tradition stellen.

Auch abseits dieses Wochenendes voller Lieder mit und ohne Worte findet sich der Gesang immer wieder im Programm. Mitte August steht etwa Schuberts Musik noch einmal in Greifswald dezidiert im Zentrum eines Konzerts: Liedermacher Gisbert zu Knyphausen taucht gemeinsam mit Pianist Kai Schumacher und Band in die Sphäre der »Winterreise« ein und lässt irre Hunde heulen, wenn dem berühmten Liederzyklus ein modernes Klanggewand übergeworfen wird. Bereits Ende Juni bringt Schauspielerin und Sängerin Jasmin Tabatabai in Rostock ihre ganz persönliche Auswahl von Songs und Liedern auf die Bühne. Begleitet vom David Klein Quartett, verzaubert die Deutsch-Iranerin mit Jazz, Chansons und persischen Volksliedern. Dass gerade zur Weihnachtszeit besonders viel gesungen wird, spiegelt sich schließlich im Adventswochenende mit dem Aris Quartett wider: Gemeinsames Musizieren und Weihnachtslieder sind für die vier Musiker:innen nämlich feste Bestandteile beim Warten auf Weihnachten. In Stolpe und Ulrichshusen wandelt das Ensemble dabei mit weiteren Musiker:innen an drei Tagen auf den Spuren des Gesangs und des Chorals und zeigt beim gemeinsamen Singen mit dem Publikum, wie sehr Lieder bis heute verbinden können.

Text von Isabel Schubert